Politik

Sozialwirtschaft

28.12.15

Das Milliardengeschäft mit den Heimkindern

In nur zehn Jahren haben sich die Ausgaben für Inobhutnahmen auf jährlich neun Milliarden Euro fast verdoppelt. Ein Bundesland gibt laut einer IW-Studie pro Kind und Jahr 160.000 Euro aus.

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Von Chefkorrespondentin für Wirtschaftspolitik

Kinder in Deutschland landen häufiger bei Pflegeeltern oder im Heim. Wurden 2005 knapp 26.000 Minderjährige von den Jugendämtern in ihre Obhut genommen, lag diese Zahl 2014 schon bei mehr als 48.000. Dabei gibt es frappierende Unterschiede zwischen den Bundesländern, stellt eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) fest, die der "Welt" vorliegt. "So treten in Niedersachsen nur fünf sogenannte Verfahren zur Gefährdungseinschätzung pro tausend unter 18-Jährigen auf, während es in Mecklenburg-Vorpommern knapp 17 Fälle und im Stadtstaat Bremen sogar 23 Fälle sind." Auch die Kosten pro Fall variieren regional sehr stark.

Insgesamt gibt der Staat für die Kinder- und Jugendhilfe fast 36 Milliarden Euro im Jahr aus. Neben dem Kindergeld ist dies der zweite große Brocken der Familienförderung. Den größten Anteil in der Kinder- und Jugendhilfe machen die Betreuungskosten in Kitas und Horten aus. Während sich diese Angebote an alle Familien richten, dienen die Hilfen zur Erziehung – die neben Heimunterbringung auch Erziehungsberatung und andere Familien unterstützende Angebote umfassen – dem Schutz gefährdeter Minderjährigen und sind für jene Familien gedacht, die Probleme haben, ihren Nachwuchs alleine großzuziehen.

In nur zehn Jahren haben sich die staatlichen Ausgaben für solche Kinderschutzmaßnahmen auf jährlich neun Milliarden Euro fast verdoppelt. IW-Forscherin Marie Möller weist darauf hin, dass die Erziehungshilfe ein staatlich finanzierter Wachstumsmarkt ist, dem es an Transparenz und Kontrolle fehlt. "Es geht um sehr viel Geld, das hier von den Anbietern verdient wird", sagt die Koautorin der Studie: "Für den Steuerzahler ist es wichtig, zu wissen, wie mit dem Geld umgegangen wird."

Stabilere Familien im Süden – hohe Kosten in den Stadtstaaten

Die Ausgaben für den Kinderschutz variieren zwischen den einzelnen Bundesländern stark. Während Baden-Württemberg und Bayern im Durchschnitt für jeden unter 18-Jährigen rund 300 Euro aufwenden, liegt der Wert beim Spitzenreiter Bremen mit fast 1200 Euro viermal so hoch. Hoch sind die Kosten auch in Hamburg mit durchschnittlich 810 Euro pro Kind. Es folgen das Saarland (744 Euro) und Berlin (707 Euro). Eklatant sind die regionalen Unterschiede zudem bei der Häufigkeit, mit der die Jugendämter Alarm schlagen. Insgesamt scheint es eine höhere Sensibilität für solche Verdachtsfälle zu geben. So leiteten im Jahr 2013 die Stadtstaaten Bremen und Berlin je 1000 Minderjähriger 23-mal beziehungsweise 20-mal ein sogenanntes Verfahren zur Gefährdungseinschätzung ein. In Niedersachsen sahen die Kinderschützer unter 1000 unter 18-Jährigen dagegen lediglich fünf als potenziell gefährdet an.

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TNS-Infratest Spendenmonitor
Spendenbereitschaft der Deutschen ist gesunken

Insgesamt gibt es in Deutschland rund 120.000 solcher Verfahren im Jahr. In einem Drittel zeigt sich am Ende, dass keine Kindeswohlgefährdung vorliegt. Bei einem weiteren Drittel der Fälle gibt es zwar keine Vernachlässigung oder Misshandlung zu beanstanden, wird aber dennoch Unterstützungsbedarf gesehen. In dem letzten Drittel ergibt die Überprüfung tatsächlich eine Kindeswohlgefährdung, die oftmals eine Unterbringung außerhalb der Familien zur Folge hat. Dabei ist das Gros der Kinder, die in Obhut genommen werden, älter als zwölf Jahre.

Dass in Süddeutschland deutlich seltener das Jugendamt kommt, als dies in den Stadtstaaten oder in Ostdeutschland der Fall ist, lässt sich zum Teil mit der unterschiedlichen Bevölkerungsstruktur begründen. So sind die Familienverhältnisse im Süden stabiler als in den Großstädten oder in den neuen Bundesländern. In Berlin, Hamburg und Bremen gibt es ebenso wie im Osten viele Alleinerziehende.

Profiteure entscheiden selbst über Mittelvergabe mit

Getrennt lebende Eltern sind deutlich häufiger mit der Erziehung überfordert als Paare. Weitere Risikofaktoren sind Arbeitslosigkeit, Kriminalität und Sucht. Die IW-Studie macht indes deutlich, dass die unterschiedliche Sozialstruktur allein die großen regionalen Ausgabenunterschiede beim Kinderschutz keineswegs erklären kann. Denn auch bei den Ausgaben pro tatsächlichen Gefährdungsfall variieren die Kosten enorm. So gibt Niedersachsen pro Fall und Jahr 160.000 Euro aus, Thüringen dagegen lediglich 40.000 Euro. Auch so unterschiedliche Regionen wie Berlin, Bayern und Mecklenburg-Vorpommern sind mit etwa 50.000 Euro eher kostengünstig. Eine rationale Erklärung haben die Wissenschaftler dafür nicht.

Bei den unterschiedlichen Kinderschutzmaßnahmen sind die Kosten pro Fall ebenfalls extrem verschieden. Für ein Kind, das im Heim untergebracht wird, verzeichnet Nordrhein-Westfalen mit knapp 36.000 Euro pro Fall die höchsten Ausgaben, dicht gefolgt von Niedersachsen. Deutlich kostengünstiger ist die Heimbetreuung dagegen nicht nur in den ostdeutschen Ländern, sondern auch in Schleswig-Holstein, Hamburg und Bremen. Noch stärker sind die Unterschiede bei der Vollzeitpflege, wo kostenmäßig Berlin an der Spitze liegt. Am extremsten aber ist die Varianz bei der Erziehungsberatung: Hier leistet sich mit Mecklenburg-Vorpommern ein ostdeutsches Land mit 830 Euro pro Fall zehnmal höhere Ausgaben als die Niedersachsen oder Bayern.

Schon diese Schlaglichter zeigen, dass die eklatanten Kostendifferenzen offensichtlich keinem nachvollziehbaren Muster folgen. Die IW-Studie liefert denn auch andere Erklärungsansätze, die allerdings an der Effizienz des Kinderschutzes in Deutschland zweifeln lassen. Das größte Problem sehen die Ökonomen im Jugendhilfeausschuss. In diesem zentralen Steuerungsgremium des Jugendamtes werden Entscheidungen über die finanzielle Ausstattung und die Auswahl der zu fördernden Maßnahmen getroffen.

In dem Ausschuss sitzen auch die großen Anbieter sozialer Dienste wie etwa die Diakonie, die Caritas oder die Arbeitgeberwohlfahrt, die auch in der Jugendhilfe aktive Player sind. "Freie Träger sind also an Entscheidungen beteiligt, die sie selbst betreffen – sie können dafür sorgen, dass sie selbst Aufträge erhalten", moniert das IW. Die Forscher verweisen darauf, dass die Monopolkommission bereits angemahnt hat, den Wohlfahrtsverbänden wenigstens das Stimmrecht im Jugendhilfeausschuss zu entziehen, um den Interessenkonflikt zu entschärfen.

Mehr Inobhutnahmen von Flüchtlingskindern

So bringt allein die stationäre Unterbringung von Kindern den freien Trägern Einnahmen von rund neun Milliarden Euro jährlich. "Vor diesem Hintergrund stimmen die hohen Wachstumsraten bei der Inobhutnahme mit 65 Prozent (seit 2005) und bei der Unterbringung in Einrichtungen mit 20 Prozent (seit 2008) bedenklich", heißt es in der Studie. Schließlich sei es für die freien Träger deutlich lohnender, wenn die Kinder in festen Einrichtungen untergebracht würden. Hinzu komme, dass weder überprüft werde, ob die Leistungen stattfänden, noch, ob sie wirklich gut und zielführend seien, rügt das IW.

Mehr Effizienz und Kontrolle in der Kinder- und Jugendhilfe ist auch vor dem Hintergrund des anhaltenden Flüchtlingsandrangs dringend geboten. Denn wie die jüngsten Daten des Statistischen Bundesamtes zeigen, haben die Einreisen unbegleiteter Minderjähriger die Zahl der Inobhutnahmen zuletzt stark steigen lassen. Hatten die Jugendämter 2009 noch weniger als 2000 Flüchtlinge unter 18 Jahren unter ihre Fittiche genommen, waren es im vergangenen Jahr schon gut 11.600. Für dieses Jahr ist ein weiterer starker Anstieg wahrscheinlich.